Seit heute ist das 9-Euro-Ticket gültig und darum rückt der ÖPNV in die Medien. Schließlich darf man mit dieser besonderen Fahrkarte bis Ende des Monats für neun Euro den gesamten öffentlichen Personennahverkehr, also Regionalbahnen und Busse, nutzen. Doch ähnlich wie Corona deckt diese Maßnahme mehr Probleme in Deutschland auf, als sie Nutzen bringt. Damit muss wesentlich mehr erledigt werden, als vorübergehend den Preis zu senken.
1. Probleme lösen statt kurzfristige Maßnahmen
Die Deutsche Bahn ist in einem schlechten Zustand. Mehr oder wenige regelmäßige Bahnfahrer kennen den Satz „Sänk ju for träwelling“ nicht als Danke der Bahn, sondern als ironischen Spruch. Züge und Busse im Regionalverkehr sind in Deutschland kein zuverlässiges, modernes und gemütliches Verkehrsmittel.
2. Zuverlässige Verbindungen
Nur knapp 70% aller Fernzüge der DB waren im April 2022 pünktlich. Dabei ist die Statistik noch schöngeredet. Erstens geht es wie gesagt nur um Fernzüge, also die ohnehin schon teuren Züge wie den ICE. Zweitens bezieht sich die Angabe der Pünktlichkeit nur auf die eigene Definition der DB. Danach gelten Züge mit fünf Minuten Verspätung noch als pünktlich und komplett ausgefallene Fahrten werden nicht mitgerechnet. Diese katastrophalen Werte müssen dringend verbessert werden.
3. Transparente Informationen
Im Zusammenhang mit Verspätungen kennen Bahnreisende auch den Ausdruck „Verzögerungen im Betriebsablauf“. Die Formulierung ist nicht nur unnötig bürokratisch, sie ist vor allem völlig inhaltsleer. Übersetzt bedeutet sie: Der Zug hat Verspätung, weil er zu spät kommt. Ob es an einem technischen Defekt, einer Baustelle, dem Wetter oder was auch immer liegt, erfahren die wartenden Fahrgäste am Bahnsteig meistens nicht.
Wenn die DB hier transparenter kommunizieren würde, könnte sie auf mehr Verständnis bei den Fahrgästen hoffen. Es wäre auch eine Motivation, um unnötige Mängel im Betriebsauflauf zu beheben.
4. Nicht nur ein Bus pro Tag
Mit dem 9-Euro-Ticket kann man jetzt quer durch Deutschland überall hinfahren. Theoretisch ist das jedenfalls so. Praktisch gesehen werden die Menschen jetzt umso deutlicher merken, dass es unabhängig von den Kosten in vielen Fällen gar nicht so einfach ist, von A nach B zu gelangen.
Ich fahre zum Beispiel wöchentlich zu zwei beruflichen Terminen und habe anlässlich des 9-Euro-Tickets mal recherchiert, ob und wie ich mit dem ÖPNV den Weg von zu Hause zu den beiden Orten schaffen könnte. Im einen Fall würde ich mich zunächst entgegen der gewünschten Richtung bewegen, müsste zweimal umsteigen und wäre mehr als eine Stunde unterwegs. Für eine Strecke, die ich mit dem Auto in gut 20 Minuten schaffe. In dem anderen Fall gibt es eine direkte Busverbindung zum Hauptort der Zielgemeinde. Das Drei-Straßen-Dorf, wo ich hinfahren muss, passiert der Bus dabei aber nur ein-, zweimal pro Tag. Es klingt wie ein Klischee, aber es gibt sie: die Haltestelle, wo nur höchst selten mal ein Bus hält.
5. Einfachere Tarife
Das 9-Euro-Ticket wird wohl nicht nur wegen des günstigen Preises gekauft. Ein großer Vorteil ist auch, dass es bundesweit überall gleich gilt (abgesehen von den skurrilen Ausnahmen mit gleichzeitigem RE und ICE). Man muss nicht überlegen, in welchem Verkehrsverbund man gerade ist. Man braucht nicht zu suchen, welcher Tarif auf welcher Strecke zu welchem Sonnenstand der günstigste ist. Was jetzt für drei Monate gilt, sollte dauerhaft zu sein. Schafft die ganzen Verkehrsverbünde ab und macht es einheitlich und verständlich!
Ansätze dazu gibt es schon. Ein Beispiel ist der Tarif eezy.nrw in Nordrhein-Westfalen. Aber auch der gilt halt nur in bestimmten Verkehrsverbünden. Positiv ist dabei das Abrechnungssystem. Man steigt irgendwo ein und woanders aus und bezahlt dann neben einer Grundgebühr für die zurückgelegte Strecke, ähnlich wie bei einer Taxifahrt. Ich habe den Tarif noch nicht benutzt, aber etwas Ähnliches schon vor Jahren in Eindhoven (Niederlande) erlebt. Da hat Deutschland also Nachholbedarf.
6. ÖPNV endlich digitalisieren
Wo wir gerade von großem Nachholbedarf in Deutschland reden, können wir die mangelnde oder fehlende Digitalisierung natürlich nicht ignorieren. Da gibt es auch im ÖPNV große Mängel.
In größeren Städten kennen wir an Haltestellen von Straßen- und U-Bahn oder Bussen die Anzeigetafeln, die uns verraten, in wie viel Minuten die nächste Bahn / der nächste Bus der Linie X kommt. Auf dem Dorf gibt es höchstens einen gedruckten Fahrplan. Die Deutsche Bahn nutzt an den Bahnhöfen weiterhin die altmodischen, analogen Anzeigen. Verspätungen werden ungenau als „circa 10 Minuten“ angegeben, wobei erfahrene Reisende wissen, dass es Mindestangaben sind. Dabei sind die Daten doch vorhanden. In der DB-App werden die Verspätungen genauer angegeben. Warum werden diese Daten nicht auf einem Bildschirm am Bahnsteig genutzt?
7. Öffentlicher Nutzen statt Profitstreben
Seit der Privatisierung 1994 hat sich die Deutsche Bahn um alles Mögliche gekümmert. Güterverkehr, Speditionen, Buslinien im Ausland. Nur für die alltäglichen Bahnreisenden in Deutschland hat sie wenig bis nichts getan. Es ging nur um die Börse und Profitstreben.
Erst der Druck durch Konkurrenten wie Flixtrain hat dazu geführt, dass die DB zu Verbesserung der Infrastruktur und des Service gezwungen wurde. Die Mängel sind immer noch riesig (siehe oben). Dabei sagt schon das Ö in ÖPNV, dass Bahnen und Busse von öffentlichem Nutzen sein sollten.
8. Priorität für Bus und Bahn
Wenn eine Fahrt von A nach B mit dem Auto dreimal so schnell geht wie mit öffentlichen Verkehrsmitteln (siehe mein Beispiel in Punkt 4), schaffen wir keine Verkehrswende. In Deutschland, wo die Politik weiterhin von der Autoindustrie bestimmt wird, reden die Verantwortlichen nur darüber, ob Verbrenner oder E-Autos besser sind. Die beste Lösung wäre aber eine Welt, in der wir möglichst gar keine Autos mehr brauchen.
In dieser Welt hätte die Fortbewegung mit gut funktionierenden Bussen und Bahnen die höchste Priorität. Kürzere Strecken kann man auch problemlos mit dem Fahrrad zurücklegen. Es soll sogar Leute geben, die ihre eigenen Füße zur Fortbewegung nutzen.
9. Klimawandel ernst nehmen
Eine Welt mit einer Priorität für den ÖPNV statt für Autos wäre auch eine Welt, in der wir das 1,5-Grad-Ziel leichter erreichen könnten. Vorausgesetzt natürlich, dass die öffentlichen Verkehrsmittel mit erneuerbaren Energien angetrieben werden.
Der Bundeskanzler hat gerade gezeigt, dass Aktivisten, die sich für ein gutes Klima einsetzen, für ihn eher Nazis als wichtige Stimmen sind. Luisa Neubauer, die bekannteste Stimme von Fridays for Future, hat schon unabhängig von diesem Skandal erkannt, was da immer noch schiefläuft. In einem lesenswerten Interview sagt sie zu Recht: „Wir haben vor allem ein Problem des politischen Willens. Und ein Realisationsproblem, weil noch immer viele Menschen diese Krise nicht wahrhaben wollen.“
Also fangt endlich an, die Probleme, die immer deutlicher werden, endlich zu lösen!