Wenn man die Reaktionen und Medienberichte nach der Europawahl verfolgt, könnte man meinen, dass die Politiker und auch einige Reporter von all den Ereignissen überrascht sind. Dabei kommen weder der Klimawandel noch die Digitalisierung plötzlich und unerwartet. Außer den erfolgreichen Grünen haben die großen Parteien diese Themen nur verschlafen oder bewusst ignoriert, wofür sie zu Recht von den Wählern bestraft wurden. Es ist an der Zeit, die Themen mal etwas einzuordnen.
Schauen wir uns also zunächst mal die großen beiden Themen Digitalisierung und Klimawandel an, die neben der Bildung die wichtigsten Themen für die Gegenwart und Zukunft sind.
Die Digitalisierung
Allein drei Ereignisse der letzten Tage reichen, um zu zeigen, wie vor allem die CDU bei diesem Thema versagt. Es begann mit dem mittlerweile berühmten Video des Youtubers Rezo und dem Nachschlag durch seine jungen Kollegen. Das daraus entstandene Chaos wurde in den Medien schon ausführlich behandelt. Am vergangenen Freitag folgte eine Entdeckung des Politsatirikers Nico Semsrott. Er wies darauf hin, dass die CDU auf ihrem eigenen Youtube-Kanal ohne Erlaubnis Video aus TV-Sendungen von ARD und ZDF hochgeladen hatte. Am gestrigen Montag, dem Tag nach der Wahl, folgte dann der bisherige Tiefpunkt auf der nach unten offenen Digital-Blamage-Skala. Die CDU-Parteivorsitzende und Möchtegern-Kanzlerin Annegret Kramp-Karrenbauer wünschte sich eine Zensur kritischer Beiträge im Internet, wie wir es bisher vor allem aus China kennen. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Grundgesetz Artikel 5) war ihr dabei offensichtlich egal, auch wenn sie sich anschließend – ganz im Stil der AfD – falsch verstanden fühlte.
Doch diese Beiträge der letzten Tage wären gar nicht nötig gewesen, um die Unfähigkeit der deutschen Regierung beim Thema Digitalisierung zu erkennen. Die Probleme begleiten uns schon seit Jahren. Bereits vor zehn Jahren wollte AKKs Parteikollegin Ursula von der Leyen eine Zensur im Internet einführen. Mit dem letztlich gescheiterten Zugangserschwerungsgesetz wurde sie zur „Zensursula“. Rund vier Jahre später, im Juni 2013, erklärte Angela Merkel das Internet zum „Neuland“. Seitdem hat sich offensichtlich kaum ein Politiker aus dem konservativen Lager darum bemüht, dieses Neuland mal kennenzulernen. Sie wissen bis heute nicht, wie das Internet funktioniert und kennen deshalb auch nicht die Auswirkungen der modernen Kommunikation über Social Media und Youtube. Stattdessen beschließt die Gruppe um Axel Voss trotz heftiger Proteste das neue EU-Urheberrecht mit Upload-Filtern usw.
Der Klimawandel
Die Verlierer der Europawahl (formerly known as Volksparteien) jammern darüber, dass die Grünen doch nur vom Klimawandel profitiert hätten. Dabei ist auch dieses Thema nicht erst im Mai 2019 vom Himmel gefallen. Spätestens seit den Diskussionen um den Hambacher Forst, der der Gier des Großkonzerns RWE zum Opfer fallen sollte, ist das Thema Klimawandel im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der Dürresommer 2018 führte uns deutlich vor Augen, was in Zukunft verstärkt droht, wenn wir nicht handeln. Greta Thunberg streikt nicht seit letzte Woche, sondern seit August 2018 für das bessere Klima. Auch die von ihrem Schulstreik inspirierte Bewegung Fridays for Future ist mindestens seit Dezember 2018, also ungefähr seit einem halben Jahr, in Deutschland und vielen anderen Ländern aktiv. Es war also schon genug Zeit, um auf die offensichtlichen Probleme zu reagieren, doch Veränderungen in Richtung Plastikverbot, CO2 -Steuer, Elektromobilität etc. kommen bisher bestenfalls in Ansätzen.
Die Reaktion der Wähler
Die Zahlen der Europawahl sind eindeutig. Die CDU wird laut Analyse fast nur noch von Rentnern gewählt. Rund die Hälfte ihrer Stimmen bekam sie von Über-70-Jährigen. Sie ist also eine aussterbende Partei und die SPD steht sowieso schon längst auf der Roten Liste der gefährdeten Arten. Die politische Zukunft wählt jedoch grün. Bei den Unter-25-Jährigen gab es am Sonntag 33% für die Grünen (mehr als Union, SPD und FDP zusammen). Dabei waren viele FFF-Schüler noch gar nicht wahlberechtigt. Der Trend ist klar.
Weitere Irrtümer nach der Wahl
Zwei weitere Probleme fallen seit dem Wahlsonntag auf. Erstens ist an vielen Stellen Jubel über die angeblich hohe Wahlbeteiligung zu hören und zu lesen. Das ist Unsinn. Es gab zwar eine leichte Steigerung von 48,1% bei der Europawahl 2014 auf 61,4% bei der aktuellen Wahl. Doch damit bleiben immer noch fast 40% der wahlberechtigten Deutschen übrig, die sich nicht für die Demokratie interessieren. In der gesamten EU war die Wahlbeteiligung mit 51% sogar noch niedriger und in manchen Mitgliedsstaaten lag der Wert sogar unter 30%. Das sind erbärmliche Zahlen.
Zweitens ist Freude darüber zu hören, dass der Rechtsruck ausgeblieben oder gering ausgefallen sei. Wer die Situation so schönredet, sollte sich mal die Wahlergebnisse in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU ansehen. Dann erkennen wir, dass Lega Nord in Italien, Rassemblement National (früher als Front National bekannt) in Frankreich, Orbans Fidesz-Partei in Ungarn und PiS in Polen als jeweils erfolgreichste Partei ihres Landes triumphiert haben und die AfD in Ostdeutschland über 20% geholt hat. Das sind allesamt rechtsextreme Parteien, die sich nicht besonders für Demokratie und Menschenrechte interessieren.
Insgesamt wird das Europaparlament vielfältiger und mehr Parteien müssen in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Da außer der rechtsextremen Minderheit wohl hoffentlich alle Politiker die Geschichte und Probleme der Weimarer Republik kennen, sollte diese Vielfalt als Chance gesehen werden. Es wäre die große Chance, sich endlich gemeinsam für die Digitalisierung, gegen den Klimawandel und für alle anderen wichtigen Themen zu engagieren.