Fakten vs. Fiktion – die Grenzen der Wirklichkeit

„That’s a fact, it’s a thing we can’t deny“, singt Katie Melua in ihrem Lied über die neun Millionen Fahrräder in Peking. Ich weiß nicht, inwiefern sie diese Zahl überprüft hat. Aber sie benutzt hier einen Begriff, der immer umstrittener und deshalb gefährdeter ist. Es geht um Fakten, um Dinge, die man nicht leugnen kann, weil sie einfach so sind, wie sie sind. Doch spätestens seit der unsinnige Begriff „alternative Fakten“ erfunden wurde und Schreihälse von den politischen Rändern wieder über die angebliche „Lügenpresse“ meckern, ist die Welt sehr unruhig geworden. Dass eine als seriös geltende Zeitschrift wie der Spiegel vergangene Woche einen der größten Medienskandale im eigenen Haus aufdeckte, trägt nicht gerade zur Beruhigung bei.

Wo verläuft die Grenze zwischen Fakten und Fiktion?

Wissen damals und heute

Früher war die Welt einfacher organisiert. Alles, was man sich nicht erklären konnte, galt als das Werk von Göttern oder anderen übernatürlichen Wesen. Das führte u.a. zur Hexenverfolgung, bei dem viele unschuldige Frauen ihr Leben verloren. Zugang zu Bildung und Wissen hatten damals nur wenige Menschen und diejenigen, die eine Schule besuchen konnte, um überhaupt mal solch elementare Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben zu erwerben, stammten aus reichen, mächtigen Familien. Wissen und Macht waren also eng verbunden.

Mittlerweile hat sich die Wissenschaft selbstverständlich deutlich weiterentwickelt. Wir wissen jetzt, dass Wetterphänomene oder Krankheiten nichts Übernatürliches sind, sondern können viele Dinge in der Welt um uns herum wissenschaftlich erklären. Wir kennen die Ursachen und können darauf reagieren, uns anpassen und so zum Beispiel Behandlungsmethoden gegen Krankheiten ausarbeiten. Außerdem ist das Wissen nicht mehr länger einigen wenigen Menschen vorbehalten. Durch Bücher, Fernsehen und das Internet können wir uns über alle Themen informieren, die uns interessieren. Wir haben Zugang zu sehr vielen Informationen.

Ordnen und belegen

Doch diese große Menge sorgt auch für Probleme, denn wir müssen die vielen Informationen richtig einordnen und bewerten. Denn ein Haufen von Informationen ist noch längst kein Wissen. Letzteres entsteht erst durch die Struktur und das Verstehen von Zusammenhängen. Genau an diesem Punkt wird die Welt komplex. Hier trennen sich die Wege der intelligenten, vernünftigen Menschen und der primitiven Vereinfacher. Der Homo sapiens versteht, wie beispielsweise moderner Konsum, wirtschaftliche Ausbeutung, globale Erwärmung, Migrationsbewegungen und internationale Politik zusammenhängen. Der Höhlenbewohner sagt einfach: Flüchtlinge.

Wie können wir nun dafür sorgen, dass zu viele Menschen sich zur dummen Seite bewegen? Vor allem müssen wir das „Warum“ in den Mittelpunkt stellen. Es reicht nicht zu sagen: „Das ist so.“ Wir müssen erklären, warum es so ist. Oder wissenschaftlicher ausgedrückt: Wir müssen unsere Aussagen mit Fakten nach dem neusten Forschungsstand belegen. Die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia ist beispielsweise ein offenes System, in dem jeder Interessierte die Inhalte jederzeit ändern und ergänzen kann. Um sich dennoch abzusichern, werden insbesondere bei umstrittenen Themen neben einer neutralen Darstellung Belege in Form von Einzelnachweisen verlangt.

Die Aufgabe von Journalisten und das Problem der Reportage

An diesem Punkt ist Claas Relotius, der Märchenonkel vom Spiegel, letztlich gescheitert. Seine Geschichten waren lebhaft geschrieben, hatten aber mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun. Fiktive, spannende Geschichten zu verfassen, die höchstens ein Körnchen Wahrheit enthalten, ist aber die Aufgabe von Schriftstellern. Für einen Journalisten ist das ein Todesurteil. Die Aufgabe von Journalisten, egal ob in der schreibenden Zunft oder den audiovisuellen Medien, ist es ja gerade, die Vielfalt von Informationen zu kanalisieren und sie sinnvoll geordnet und leicht verständlich zu vermitteln. Sie befinden sich also an der vorhin beschriebenen Nahtstelle zwischen Informationen und Wissen. Das funktioniert am einfachsten, wenn sie sich auf die Fakten beschränken.

Problematisch wird es vor allem bei der Reportage, also dem journalistischen Genre, in dem Relotius hauptsächlich tätig war. In diesem überbewerteten Format neigen die Reporter oft dazu, ihre Schilderungen auszuschmücken. Sie beschreiben Details ausführlich, zitieren viel und stellen Gefühle dar. Wenn sie dann keine Belege in Form von Video- oder Audioaufnahmen vorlegen oder die Texte von ihren Gesprächspartnern nicht autorisieren lassen, wird es für die Kollegen schwierig, die Reportage zu prüfen. Dann scheitert auch die Dokumentationsabteilung als hauseigene Kontrollinstanz, wie nun beim Spiegel geschehen.

Fazit

Was folgt daraus? Wir brauchen:

  • eine gute Bildung als Schutz vor den Vereinfachern
  • seriöse Journalisten, die belegte Informationen aufbereiten und vermitteln
  • Menschen, die den richtigen Mittelweg zwischen vernünftigem Denken und kritischem Nachfragen finden