Wir stehen vor der Wahl – und das im doppelten Sinn. In knapp vier Wochen findet die Bundestagswahl 2021 statt. Nicht nur Fridays for Future weist eindringlich darauf hin, dass es auch ein äußerst wichtige Abstimmung zum Thema Klimawandel ist. Noch haben wir die Wahl: So lautet der Titel eines äußerst lesenswerten Buches zu diesem Thema. Luisa Neubauer, die bekannteste deutsche Vertreterin von Fridays for Future und damit eine der aktuell wichtigsten Stimmen der jungen Generation, führt darin ein umfangreiches Gespräch mit dem Boomer-Journalisten Bernd Ulrich.
Mehr als 1,5 Grad
In ihrem eigenen Podcast 1,5 Grad hat Luisa Neubauer bereits mit verschiedenen Menschen über den Klimawandel und dessen Auswirkungen gesprochen. Schließlich sind dabei zwei Dinge besonders wichtig: erstens auf die Experten hören, zweitens die Vielfalt des Themas verdeutlichen. Es geht schließlich nicht nur um die Frage, wie wir das 1,5-Grad-Ziel erreichen. Ein zweites wichtiges Ziel ist die Klimagerechtigkeit, vor allem gegenüber dem globalen Süden. Möglichst alle Wählerinnen und Wähler müssen vor der Wahl unbedingt verstehen, dass wir hier von einem im wahrsten Sinne des Wortes lebenswichtigen Thema reden.
Vertreter zweier Generationen kommen vor der Wahl ins Gespräch
Den heute jungen Menschen wurde vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, dass die Politik deren Zukunft mehr berücksichtigen müssen, während sich die älteren Menschen dem Vorwurf ausgesetzt sein, das mit dem Klimawandel verschuldet und verbockt zu haben. Doch diese Zusammenfassung wäre zu einfach. Um die Komplexität des Themas zu verdeutlichen, haben sich also Luisa Neubauer und Bernd Ulrich zu ausführlichen Gesprächen getroffen. Sie Jahrgang 1996, bestens informierte und motivierte Aktivistin, er Jahrgang 1960, ausgezeichneter, hochrangiger Journalist der Wochenzeitung Die Zeit und Vertreter der Boomer-Generation.
Persönliche Erfahrungen und neue Phase
An dieser Stelle möchte ich natürlich nicht das ganze Buch nacherzählen, aber dennoch die thematische Vielfalt der Gespräche verdeutlichen. Daher habe ich mal ein paar zentrale Zitate aus allen Kapiteln rausgepickt. Der Einfachheit halber verwende ich dabei nur die Vornamen und Seitenzahlen in Klammern.
Im ersten Kapitel geht es um die persönliche Entwicklung der Protagonisten. Bernd erlebte vor ein paar Jahren „eine Art Renaissance [s]einer frühen Ökologie“ (16). Luisa hatte nach einem privaten Verlust „die brutale Erkenntnis, dass [ihr] Heile-Welt-Zuhause vergänglich ist“, was sie dazu brachte, „eine Reihe weiterer Grundsatzfragen zu stellen“ (19).
Sie sieht den „Sprung von der theoretischen Klima-Emanzipation zur praktischen Emissionsreduktion“ (23). Durch die Corona-Pandemie „gingen überall Möglichkeitsfenster auf“ (27). Bernd erneuert einen alten Vergleich und sagt, „dass eine verirrte Fledermaus den Lauf der Welt verändern kann“, weshalb man ihr „nicht zu sehr auf die Nerven fallen sollte“ (30). Die Klimakrise sei durch die Verschiebung in die Zukunft und den Glauben an technische Lösungen „doppelt verklärt“ (36). Luisa erkennt einen Unterschied zwischen der verneinenden Coronakrise und der umfassenden Bejahung in der Klimakrise (40) und Bernd ergänzt: „Man verwechselt Freiheit mit Gewohnheit, Gewohnheit mit Anspruch und Anspruch mit Recht.“ (41)
Luisa hofft, die Klimakrise „integrativ zu bewältigen“ (43). „Noch die Wahl zu haben“ heißt für sie, dass sich ständig „mehr Möglichkeitsfenster verschließen“ (47) und Bernd betont: „Klimaschutz ist Freiheitsschutz“. Luisa sieht in manchen Teilen der Welt „Unfreiheit durch Klimafolgen“ (52) und in allen Lebensbereichen „unerträgliche Auswirkungen“ (53).
Der Einfluss von Medien und Politik
Bei der Diskussion über die Rolle der Medien wünscht sich Bernd, „dass viele unterschiedliche Wege für eine 1,5-Grad-Politik entwickelt werden“. Doch laut Luisa „muss der ökologische Missstand immer übersetzt werden“ (58), weil ein Baum nicht sprechen kann, und sie fordert eine „Klima-Grundausbildung“ (59). Bernd findet es schwierig, weil diese Krise „kein Ereignis, sondern ein [langsamer] Prozess“ (63) und eine „Zerstörung ohne Ideologie“ (64). Luisa kritisiert die „Fossilität der Medienlandschaft“ (72), die es nicht schaffe, „acht Milliarden Geschichten zu erzählen“ (75).
Angela Merkels „nicht-programmatische, nicht-präventive Politik“ (82, Bernd) erzeugte bei vielen Menschen „eine trügerische Sicherheit“ (86, Luisa). Dann sprechen die Beiden über die Diplomatie des 20. Jahrhunderts und Bernd stellt fest: „Dieses Klimapaket hat zwei Tage diskursiv gelebt und dann war es tot“ (100). Er kritisiert vor der Wahl die konservative CDU, „die immer von Schöpfung redet und auf den Erhalt orientiert sein sollte“ (108), während „in ihrem Denken extrem wenig Spielraum vorhanden“ (109) sei.
Luisa hält es für eine „wirklich merkwürdige Idee, etwas wie eine Kanzlerschaft einer einzelnen Person zu übertragen“ (112). Statt „Opportunismus als Kunstform zu leben“ (116, Bernd) sollten Angaben über den finanziellen Anteil von Klimaschutz „irrelevant werden, weil selbstverständlich jeder Euro auch in Richtung Klimaneutralität wirkt“ (118, Luisa). Nach Luisas Lob für Joe Biden, der die „die Klimafrage aus der Kirche zur Baustelle getragen habe“ (126) erscheint Bernd „die Frage der Meritokratie für die Ökologie sehr wichtig“ (134).
Aktivismus und Wissenschaft
Beim Thema Aktivismus erinnert Luisa daran, „dass große paradigmatische Wechsel sehr oft von marginalisierten Gruppen“ (142) ausgingen und beim „anhaltenden Prozess […] auch der Weg weg von rassistischen und sexistischen Denkmustern“ (147) gehen müsse. Daher erkennt es Bernd als wichtige Aufgabe an, die „Mauer zum Utopischen zu brechen“ (153). Beim Konflikt der Generationen ist für Luisa „ein intakter Planet womöglich ein […] gemeinsamer Nenner“ (165). Die Wissenschaft, der Fridays for Future „einen Resonanzraum“ (169, Luisa) gibt, hat laut Bernd das Problem, dass sie „zwar immer mehr weiß, dadurch aber auch immer genauer sieht, was sie alles nicht weiß“ (168). Im Gespräch über Geopolitik geht es um den großen Einfluss von Megakonzernen und politische Konflikte: „Die Hitze sehen wir erst, wenn sie uns als Dschihadist entgegenkommt“ (182, Bernd).
Was bleibt zu tun?
Anschließend sprechen die Beiden über den Einfluss von Einzelnen. Luisa erkennt: „Und selbst wenn alle Deutschen die Luft anhalten und im dunklen Kämmerlein liegen würden, wäre unser CO2-Fußabdruck immer noch viel zu hoch“ (194). Bernd fragt: „Wir haben weltweit etwa 70 Milliarden Nutztiere, die wir anscheinend problemlos ernähren können, aber acht Milliarden Menschen sollen zu viel sein?“ (200). Er sieht „die Entstofflichung unseres Lebens [als] Vermenschlichung“ (202). Hinzu komme: „Die Gegenwart expandiert nicht mehr in die Vergangenheit hinein […] und zugleich rast die Zukunft auf uns zu.“ (211) Luisa sieht außerdem die räumliche Verlagerung des Problems und „die völlig unangemessene Überhöhung des Menschen über die Tiere“ (212).
Beide fordern, dass wir die „Mensch-zu-Mensch-Arbeit als Chance sehen“ (217, Bernd). Wir haben schließlich gerade „die am besten informierte Version Mensch, die es jemals gab“ (226, Luisa). Die Aktivistin wünscht sich einen Alltag, der es ihr erleichtert, „möglichst wenig Menschenrechte zu verletzen und möglichst wenig Emissionen zu verursachen“ (230).
Gutes Timing vor der Wahl – und trotzdem fehlt das Drastischste
Das Buch wurde am 24. Juli 2021 veröffentlicht. Damit war der Verlag schon ziemlich nah dran am Datum der Bundestagswahl. Die Gespräche wurden also ziemlich aktuell geführt. Trotzdem sorgte das Schicksal dafür, dass ausgerechnet das drastischste Symbol des Klimawandels in Deutschland nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Zehn Tage vor der Veröffentlichung, in der Nacht vom 14. zum 15. Juli ereignete sich bekanntlich die Hochwasser-Katastrophe in NRW und Rheinland-Pfalz. Wenn man vorher das Buch gelesen hat, wirkt diese Ereignisse wie eine Verfilmung, wie ein realer Horrorfilm zum Thema. Allerspätestens an so einem Tag muss man endlich und umfassend die Politik ändern.