Der Mittwochabend wäre für mich ein relativ ruhiger, beschäftigungsarmer Abend gewesen. Doch irgendwann kurz nach 21 Uhr bemerkte ich die ersten Meldungen von den Ausschreitungen am US Capitol und verfolgte die Fernsehberichte und Liveticker aus Washington. Überall war von schockierenden Szenen die Rede und es wirkte oft so, als wäre das Geschehen überraschend passiert. Doch das Geschehen am zentralen Gebäude der US-Demokratie war nur der Höhepunkt von Fehlentwicklungen, die sich schon lange aufgebaut hatten. Die Eskalation entwickelte sich schrittweise.
Fehlentwicklungen schon früh zu erkennen
Schon vor der US-Präsidentschaftswahl 2020, die Joe Biden Anfang November gewann, gab es Diskussionen darüber, was bei Donald Trump und seinen radikalen Unterstützern passieren könnte, wenn der Titelverteidiger die Wahl verliert. Da war bereits von möglichen Szenarien die Rede, die einem Bürgerkrieg ähneln. Es war auch längst klar, dass der pausenlos lügende Trump die Wahlniederlage nicht akzeptieren würde. Wer die ganze Zeit Fake News verbreitet und so egoistisch und selbstverliebt ist, fühlt sich beleidigt, wenn er nur auf den zweiten Platz kommt.
Aber es wäre zu einfach, die Situation einfach Trump und den ihm folgenden, gewalttätigen Idioten zuzuschreiben. Die Probleme, die in den Szenen von gestern Abend ihren (vorläufigen?) Tiefpunkt fanden, liegen tiefer. Sie begannen schon, bevor der Medienstar und Geschäftsmann zum Präsidenten gewählt wurde.
Spaltung durch das Wahlsystem
Schon das Wahlsystem der Vereinigten Staaten ist ein Problem. Außerhalb der USA wissen nur Experten und sehr interessierte Beobachter, dass es mehr als zwei Parteien gibt. Ja, tatsächlich, es gibt dort zum Beispiel auch die Green Party, also das Gegenstück zu den Grünen in Deutschland. Aber wir hören fast nur von den Demokraten, denen u.a. Joe Biden und Barack Obama angehören, und den Republikanern. Schuld an dieser Beschränkung auf die beiden großen Parteien ist das Prinzip „Winner takes it all“, das verhindert, dass weitere Parteien ernsthafte Chancen bei den Wahlen haben.
Dieser Gegensatz – die einen gegen die anderen – führt zu einer Radikalisierung. Mit de facto nur zwei relevanten Parteien passiert es schnell, dass ein Gut-und-Böse-Denken entsteht. Da fehlt im Gegensatz zu Staaten wie Deutschland die Möglichkeit, viele verschiedene politische Ansichten zu repräsentieren. Wenn es mehrere Parteien gibt und Koalitionen gebildet werden müssen, um Mehrheiten zu erreichen, sind automatisch mehr Gespräche und ein Interessenausgleich nötig.
Mehr Medien, aber nicht mehr Kompetenz
Trump ist bekanntlich auch der Präsident, der vor allem mit Twitter und Fox News regiert hat. Seit sich das Internet immer mehr verbreitet hat und erst recht seit Facebook, Twitter und andere Social-Media-Plattformen immer erfolgreicher geworden sind, haben wir viel mehr Medien zur Verfügung. Dadurch ist auch jeder Nutzer zum möglichen Sender von Informationen geworden.
Das ist nicht grundsätzlich schlecht. Wenn man Social Media vernünftig nutzt, kann man sich gut darüber austauschen. Man kann sich auf den richtigen Seiten sogar gut informieren. Doch ist beim Thema Medien auch ein weiteres Problem erkennbar. Die Anzahl der verfügbaren Medien und Beiträge ist enorm gestiegen. Aber die Medienkompetenz, also die Fähigkeiten zum vernünftigen Umgang damit, ist nicht gewachsen, sondern bei vielen Menschen eher schlechter geworden.
Radikalisierung und Verschwörungstheorien
Vor allem die Menschen, die nicht so gebildet sind, informieren sich dann nicht vernünftig. Sie erkennen den Unterschied zwischen seriösen Nachrichten und populistischem oder gar radikalem Geschrei nicht. So sind sie anfällig für Verschwörungstheorien. Sie fallen auf Lügen herein und verbreiten sie weiter, weil sie nicht erkennen (wollen), dass es sich um Unsinn handelt. Trump und seine radikalen Anhänger missbrauchen die Dummheit dieser Menschen. Auch durch seine einfache Sprache (Wortschatz eines Kindes) denken seine Wähler, er wäre jemand wie sie.
Unter diesen Bedingungen verbreitet sich extrem negatives Gedankengut leichter. Rassismus zum Beispiel ist keine neue Erfindung, den gibt es schon lange und überall. Doch in einer zunehmend radikalisierten Welt wie in den USA ist er in den letzten Jahren immer deutlicher geworden. Die schon beim Wahlsystem erwähnte Spaltung der Gesellschaft vereinfacht im wahrsten Sinne des Wortes das Schwarz-Weiß-Denken. Martin Luther Kings Traum ist immer noch nicht in Erfüllung gegangen. Black Lives Matter – ein großer Teil der US-Amerikaner hat es noch nicht verstanden oder will es nicht verstehen.
Probleme nicht nur in den USA
Viele der beschriebenen Fehlentwicklungen gelten nicht nur für die gar nicht so sehr Vereinigten Staaten. Einiges davon erleben wir seit einigen Jahren auch in Deutschland. Wir haben mit der AfD ebenfalls Rassisten und Rechtsextremisten im Parlament. Wir haben Bewegungen wie Pegida und die selbsternannten „Querdenker“, deren Mitglieder noch nicht mal geradeaus denken können. Es gibt Medien wie die Bild-Zeitung und Social-Media-Akteure, die geistigen Sondermüll statt seriöser Nachrichten verbreiten. Überall müssen die vernünftigen Menschen darauf achten, solche Entwicklungen möglichst schnell und konsequent zu beenden und etwas Positives entgegensetzen.
Wie geht es weiter mit Joe Biden?
Das Positive sollen in den USA nun der nächste Präsident Joe Biden und seine Vize Kamala Harris bringen. Diesbezüglich gab es nahezu parallel zu den Ausschreitungen am Capitol gute Nachrichten. Höchstwahrscheinlich bekommen die Demokraten nach den Ergebnissen aus Georgia auch im Senat die De-facto-Mehrheit.
Die neue Regierung, die in knapp zwei Wochen die Kontrolle übernimmt, kann also einige Fehlentwicklungen beenden. Internationale Beziehungen wiederherstellen, etwas gegen Rassismus und andere Benachteiligungen tun, vielleicht auch etwas zum Klimaschutz beitragen. Es wären erste Schritte, um Amerika in der Zeit nach Trump wirklich großartig zu machen.